Rostock, Mecklenburg-Vorpommern

In einem fernen Land lebten zwei Greife. Sie waren größer als Pferde, hatten Kopf und Flügel wie ein Adler. Die Vorderbeine hatten gefährliche Krallen. Das Hinterteil war das eines Löwen. Ros war so schön wie ein Rose und bekam daher schon als Greifen-Mädchen diesen Namen. Tock hatte schon als Greifen-Junge gern mit Murmeln das Spiel “Tock” gespielt.

Ros und Tock waren gute Freunde. Als sie erwachsen wurden, wollten sie ein Nest bauen, Eier legen und Greifenbabys bekommen. Doch um sie herum waren nur Wüste, Sand und Steine. Kein Wasser.

So flogen sie in den Norden. Wie die Störche. Dort sollten große Bäume wachsen. Mit Eicheln und Bucheckern zum Naschen. Sie flogen dorthin, wo der Fluss Warnow die Ostsee traf. Hier war ganz viel Wasser.

So bauten sie ein Nest in einem Wald. Ros legte drei goldene Eier. Eines Tages flog Tock zum Wildschweine jagen, denn beide hatten Hunger. Da kamen viele Männer mit Schwertern und Speeren. Sie wollten Ros die goldenen Eier wegnehmen. Tock kam rechtzeitig angeflogen und sprach zu den Männern: “Wenn ihr uns die Eier lasst, dann werden wir euch beschützen.” Das gefiel den Männern und sie sagten ja.

Die Menschen bauten eine Stadt. Um diese Stadt herum eine hohe Mauer mit großen Stadttoren. Und wenn böse Reiter in die Stadt wollten, kamen Ros und Tock und halfen den Menschen. Auch die drei Greifenbabys, ein Mädchen und zwei Jungs, wurden größer und flogen mit ihren Eltern.

Kam ein Reiter mit seinem Pferd in die Nähe der Stadt, dann flog Tock los, griff Reiter und Pferd und warf beide in die Warnow. So machten es auch Ros und die Greifenkinder.

Damit keine bösen Reiter mehr kommen, malten die Menschen auf das Kröpeliner Tor mit weißer Farbe einen großen Greif. Auf das Steintor aber malten sie nur einen kleinen goldenen Greifen. So lockten sie die Reiter an. Die Greife aber stürzten hinter dem Steintor hervor, flogen in die Luft und verjagten die Bösen.

Zu Ehren der Greife Ros und Tock nannten die Menschen ihre Stadt Rostock. Sie malten einen Greif auf ihre Fahnen. Und noch heute findet man hunderte von Greifenbildern in der Stadt. Doch später brauchten die Menschen Holz zum Bauen für Häuser und Schiffe. Sie sägten einen Baum nach dem anderen ab. Die Greife konnten keine Nester mehr bauen.

So flogen sie wie die Störche nach Süden. Wenn wieder viele Bäume um Rostock herum wachsen, kommen sie vielleicht zurück.

Bild: Greif verteidigt Rostock gegen Feinde; Illustration Steffen Jähde, www.illustration-steffen-jaehde.de

Text: Hartmut Schmied, Die Rostocker Greifen Ros und Tock, in: Thomas Cardinal von Widdern, Hartmut Schmied, Hermann Peters, Der Rostocker Greif in seiner Vielfalt, Rostock 2018 (Diese neue Sage ist erstmalig in dieser Publikation erschienen als Version für Kinder im Juni 2018 zum 800. Geburtstag der Stadt Rostock. Einige Monate zuvor erschien erstmalig die Erwachsenen-Version im Hanse Sail-Magazin 2018.)

Zur Steintor-Sage des Mannes mit dem Rundbrot